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Die Verbindung von aufklärerischer Vernunft und Wissenschaft

Prof. Johann-Heinrich Königshausen: Erwin Schrödinger: „What ist Life?“ - Zwischen Physik und Biologie. Die Verschiebung einer Frage nach dem Lebendigen nach Michael Hendrickson (Stanford)

Johann-Heinrich Königshausen,  Vortrag - Universität Würzburg (2020)

Erwin Schrödinger: „What ist Life?“ - Zwischen Physik und Biologie. Die Verschiebung einer Frage nach dem Lebendigen

nach Michael Hendrickson (Stanford)

Verehrtes Publikum, zuvor ein paar Bemerkungen zu meinem kleinen Vortrag hier: Im Folgenden referiere ich nur aus dem längeren, extrem dichten Text von Michael Hendrickson mit dem Titel: „Schrödingers Geist. Überlegungen zur erstaunlichen Relevanz von Was ist Leben? für die Krebs-Biologie“. Michael Hendrickson, Prof. für Pathologie am Stanford University Medical Center, in dem Büchlein: „Geist und Materie. Was ist Leben? Zur Aktualität von Erwin Schrödinger“, Suhrkamp 2008. Im gleichen Büchlein ebenfalls sehr lesenswert zur Position Erwin Schrödingers, einem der Mitbegründer Quantentheorie, auch der Nobelpreisträger für Physik Robert Laughlin, „Was bei der Erfindung der Quantenmechanik logisch nicht zu Ende gedacht wurde“, Laughlin ist ebenfalls in Stanford.

Zum Abschluß referiere ich kurz einige Aspekte zur Frage nach dem Leben/Lebendigem aus Sicht der Kosmophysik und Chemie anhand der Übersichten von Friedrich Cramer, Direktor am Max-Planck-Institut für Experimentelle Medizin in Göttingen, den britischen Biologen Nick Lane, „Leben“, Prof. für Evolutionäre Biochemie in London, und Enrico Coen, „Die Formel des Lebens“, Molekularbiologe und Statistiker, den us-amerikanischen Biologen Kirschner und Gerhart, „Die Lösung von Darwins Dilemma“, Biologietheoretiker in Harvard Medical School in Boston, und Berkeley.

Hendrickson beginnt mit der Frage, warum wir trotz der Genomforschung in der Krebstherapie dem seit langem erwarteten „Durchbruch“ nicht wirklich näher kommen. Dazu gibt er in seinem Aufsatz insgesamt eine Skizze der Entwicklung der Biologie in den letzten 70 Jahren. Es beginnt mit Schrödingers Überlegungen von 1943 am Trinity College in Dublin, wo Schrödinger dem abstrakten, allmächtigen Gen der klassischen Genetik eine chemische Struktur gibt, die er noch den „aperiodischen Kristall“ nennt. Das war das Wundermolekül, ein Platzhalter, den Watson und Crick zehn Jahre später mit dem Doppelhelixmodell der DNA füllten (die beide sich von Schrödingers „What is Life?“-Vorlesung  früh begeisterten). Der „Plan“ des Organismus, sein „Programm“, war vorgegeben, genozentrisch und reduktionistisch. Hier beginnt das Zeitalter des Genzentrismus. Die Onkogen-Theorie konzentrierte „ursächliche Macht in einer Handvoll einzelner Krebsgene. Der „aperiodische Kristall“ war zugleich Programm und ausführendes Organ, dachte Schrödinger.“ In der Folge – seit den 70er Jahren – lenkte sich die Aufmerksamkeit allmählich darauf, wie wichtig in der biomolekularen Welt Kontext, Konnektivität, Emergenz, verteilte Kausalität und Selbstorganisation waren. Daher faßte man Krebs nun zunehmend als eine Störung von Netzwerken auf. Die Biologie versteht sich nun mehr als Systembiologie. Als Antwort auf diese Entwicklung skizziert Hendrickson am Schluß drei große Richtungen in der biologischen Forschung: Die Systembiologie, die dialektische Biologie von Lewontin und Levin (wechselseitige Abhängigkeit von Genom und Umwelt) und die an Kant (anknüpfende) biologische Forschung von Maturana und Varela und daran anknüpfend jüngst die semiotisch fundierte Biologie, u.a. von Andreas Weber, Schüler von Varela.

Neben dieser Entwicklung von einem rein physikalischen Verständnis des Genoms zu einem (system)biologischen Verständnis des Genoms verfolgt Hendrickson aber auch eine sprachliche Entwicklung. Ebenfalls 1943 entwickelt der Philosoph und Mathematiker Norbert Wiener und der Mathematiker John von Neumann die moderne Nachrichtentechnik und Informationstheorie (im Luftfahrtzentrum der amerikanischen Armee). Am MIT (Massachusetts Institute of Technology) entwickelte Claude Shannon ebenfalls seine Arbeiten zur Informations- und Kommunikationstheorie (nebenbei: Auch Gotthard Günther, Entwicklung mehrwertiger Logiksysteme, war Schüler von Norbert Wiener). Die Genforschung übernahm die Sprache der Informationstheorie: Das Genom wird zum Programm, die DNA wird zum Code, zur Codeschrift. „Dies wurde im zentralen Dogma der Molekularbiologie zusammengefaßt, welches besagt, daß der Informationsfluß in eine Richtung verläuft und von der DNA (dem Gen) zur RNA übergeht (Transkription) und von dort zum Protein (Translation). Hier wurde in assoziativer Weise die Sprache der neuen Informationswissenschaften verwendet („Code“, „Buch des Lebens“)“.

(Es sei bemerkt, daß dieser historische, genauer wissenschaftshistorische und medienhistorische Prozess ausführlich nachgezeichnet wurde von Lily Kay, „Das Buch des Lebens. Wer schrieb den genetschen Code“, 2002. Kay zeigt hier präzise die Folgen und negativen Einflüsse dieser Übernahme informationstheoretischen Sprachgebrauchs für die Genetik auf. Schöne Kurzdarstellung bei Christoph Türcke, „Vom Kainszeichen zum genetischen Code“, SS 191 ff.)

Schrödinger schrieb 1943 zur Rolle des Genmaterials: „In diesen Chromosomen ist in einer Art Code das vollständige Muster der zukünftigen Entwicklung des Individuums und seines Funktionierens im Reifezustand enthalten.“ Die großen französischen Biologen Jacob und Monod verstärkten in den sechziger Jahren diese genzentristische Auffassung dahingehend, daß aus der biochemischen Analyse sich Programm und alle weitere Entwicklung ablesen lasse: „Letztlich – so Monod - untersuchen wir in unseren Laboratorien nicht länger das Leben.“

So wurde die Frage nach dem „Leben“ (Selbstorganisation eines komplexen Systemganzen wie der Zelle oder dem Organismus im Kontext seiner Umwelteingebundenheit) in der frühen genzentristischen Analyse des Genoms verschoben zur Frage nach der Biochemie des Genoms als des Programms des Organismus. In der Komplexitätskrise der postschrödinger Ära zeigte sich: Man hatte die ursprüngliche Frage nach dem „Leben“ (dem Lebendigen) „verfehlt, weil man es verschoben hat, dabei aber zu glauben, man habe es getroffen, weil man vergaß, daß man es verschoben hat“ – so Hendrickson.

Der große Mikro- und Evolutionsbiologe Carl Woese faßt den Stand der Dinge präzise zusammen: „Die genomische Revolution produzierte riesige Datenmengen, aber der Schrödinger-Ansatz war nicht in der Lage, sie auszuwerten.  Wie schon erwähnt, kam der erforderliche ergänzende Begriffsrahmen aus einer unerwarteten Richtung, nämlich der Bioenergetik und der Selbstorganisation.“

„Schrödingers dritte Trinity-Vorlesung behandelte ein Paradox: Der zweite Hauptsatz der Thermodynamik (Entropie muß in geschlossenen Systemen stets zunehmen) schreibt den Hitztod des Universums vor, und doch scheint, wie Darwin beobachtete, im Lauf der Evolution seine Komplexität zuzunehmen. Der Begriffsrahmen, der damals hierfür noch nicht zur Verfügung stand (Theorie dissipativer Systeme von Ilya Prigogine und seinen Schülern in Brüssel entworfen, zunächst weitgehend mathematisch), ist die Theorie thermodynamischer Nichtgleichgewichtssysteme (NET auf englisch).“ „Alle dissipativen System sind thermodynamisch offene Systeme, die durch einen kontinuierlichen Fluß von Materie und Energie, der sie durchläuft, erhalten werden.“ „Leben ist langsame Verbrennung: Eine Kerze ist ein dissipatives System“. „Das Brennen der Kerze und das langsame Verbrennen beim Zellstoffwechsel sind beides Verbrennung: Bei beiden kommt Oxydation vor“. „Es gibt natürlich bedeutende Unterschiede. Die Energie der Kerze geht als Hitze verloren; die Energie, die der Stoffwechsel produziert, wird in verwendbarer Form erhalten, als Energiewährungsmolekül.“ Das berühmte ATP (Adenosintriphosphat), quasi das Grundwährungsmolekül des Stoffwechsels. So kamen am Ende der Vorlesungen Schrödinger doch Bedenken: „(Es stellte sich heraus), daß die lebende Materie zwar den bis jetzt aufgestellten ,physikalischen Gesetzen‘ nicht ausweicht, aber doch bisher unbekannten ,anderen physikalischen Gesetzen‘ folgt“. Was war denn die Frage nach der lebenden Materie?

„1790 bestimmte Kant genau die Grenze, durch die sich Lebewesen von Nichtlebewesen unterscheiden“ – so Hendrickson (übrigens in der Kritik der Urteilskraft ab §§ 64 ff):

„In einem solchen Produkte der Natur wird ein jeder Teil, so, wie er nur durch alle übrige da ist, auch als um der anderen und des Ganzen willen existierend, d. i. als Werkzeug (Organ) gedacht: welches aber nicht genug ist (denn er könnte auch ein Werkzeug der Kunst sein, und so nur als Zweck überhaupt möglich vorgestellt werden); sondern als ein die andern Teile (folglich jeder den andern wechselseitig) hervorbringendes Organ, dergleichen kein Werkzeug der Kunst, sondern nur der Stoff zu Werkzeugen (selbst denen der Kunst) liefernden Natur sein kann: und nur dann und darum wird ein solches Produkt, als organisiertes und sich selbst organisierendes Wesen, ein Naturzweck genannt werden können.

In einer Uhr ist ein Teil das Werkzeug der Bewegung der andern, aber nicht ein Rad die wirkende Ursache der Hervorbringung des andern; ein Teil ist zwar um des andern Willen, aber nicht durch denselben da. Daher ist auch die hervorbringende Ursache derselben und ihrer Form nicht in der Natur (dieser Materie), sondern außer ihr in einem Wesen, welches nach den Ideen eines durch seine Kausalität möglichen Ganzen wirken kann, enthalten. Daher bringt auch so wenig wie das Rad in der Uhr das andere, noch weniger eine Uhr andere Uhren hervor, so sie andere Materie dazu benutze (sie organisierte).“ … „Ein organisiertes Wesen ist also nicht bloß Maschine: denn die hat lediglich bewegende Kraft; sondern sie besitzt in sich bildende Kraft, und zwar eine solche, die sie den Materien mitteilt, welche sie nicht haben (sie organisiert): also eine sich fortpflanzende bildende Kraft, welche durch das Bewegungsvermögen allein (den Mechanism) nicht erklärt werden kann.“

Damit hat Kant, in physikalischen Fragen ganz Anhänger Newtons, das Thema der Biologie ganz außerhalb von Newtons Physik gesetzt. Zurecht: Denn Newtons Physik grenzt ja schon im ersten Axiom der Principia mathematica philosophiae naturalis alles, was der Selbstorganisation und damit der Selbstbewegung fähig ist, aus seiner Physik aus: „Omne corpus … - jeder Körper verharrt im Zustand der Ruhe oder der gleichförmigen Bewegung, es sei denn, von außen auf ihn einwirkende Kräfte hindern ihn daran, in diesem Zustand zu verbleiben.“

Die bereits genannten Maturana und Varela knüpfen genau hier an Kant an, wenn sie von „autopoietischen Systemen“ sprechen. Selbst hervorbringende, selbstorganisierende und selbstbewegende Systeme sind nicht-lineare Systeme, sind nicht einfach kausale Systeme. Als lebendige Systeme haben sie einen Lebensverlauf, sind zeitgebunden und sich permanent ändernd. Alles, was ihnen begegnet, hat für sie eine „Bedeutung“ auf dem Hintergrund ihres Lebensvollzugs. (Gehen Sie mal an einem Haufen hungriger oder satter Löwen vorbei, Sie werden schnell bemerken, wie dergleiche Reiz eine unterschiedliche Antwort auslöst.) Lebewesen sind also keine Reiz-Reaktionsmaschinen (keine „Mechanism“, würde Kant sagen). Weil sie in ihre Umwelt eingebettet sind, hat jeder Reiz eine Bedeutung auf dem Hintergrund ihres Lebensvollzugs, hat also eine Zeichenfunktion (das gilt für den Löwen wie für das Bakterium in der Petrischale). Lebendiges ist per se also „semiotisch“, wie Andreas Weber sagt.

Nebenbei bemerkt: Da der Humanmediziner es ja wie der Veterinärmediziner mit einem Organismus zu tun hat, sollte er sich ebenfalls klar machen, ob und wie er den humanen Organismus gegenüber anderen Organismen verstehen will. Dieses Problem der Anthropologie, das hier nicht zur Debatte steht, wird also in Richtung der semiotischen Verfassung des humanen Organismus zu suchen sein.  

Ich komme nochmals zurück zu Michael Hendricksons Text und seinen Schlußfolgerungen: „Die wechselnden Perspektiven in der Geschichte der Biologie: Ich habe dafür plädiert, die Evolution der Molekularbiologie als Bewegung in einer bestimmten Richtung anzusehen: Es ist eine Bewegung vom Glauben an Vorgegebenes, vom Reduktionismus und von der Genzentriertheit hin zu einer wachsenden Wertschätzung der Rolle von Selbstorganisation (Epigenese), emergenten Eigenschaften und dem Zusammenwirken vielfältiger Organisationsebenen. Es wäre falsch, dies als neue Entwicklungen in der Geschichte der Biologie anzusehen.“

„Aristoteles, der erste uns bekannte Embryologe, prägte den Begriff der Epigenese. Bei seinen Beobachtungen, wie sich Hühner aus Eiern entwickeln, beeindruckte ihn, daß eine bestimmte Form in jeder Generation aufs neue hervorgebracht wurde.“… Die Präformationismus war eine Antwort auf dieses Problem. Die erste Version des Präformationismus war der Homunkulus, der zusammengerollt im Ei (oder Spermium) liegen sollte. Die entsprechende Version des 20. Jahrhunderts war Schrödingers genetisches Programm, der „Geist im Chromosom“. Die Systembiologie und noch deutlicher die Entwicklungs-Systemtheorie kehren zur Aristotelischen Vorstellung einer emergenten Form zurück, die von keinem Wundermolekül dirigiert wird. … Die Epigenese hat damit ihre Würde wiedererlangt. Somit waren also keine ‚anderen‘ physikalischen Gesetze (wie Schrödinger meinte) vonnöten, um Leben zu erklären, sondern eher die Rückkehr zu einer wohlbekannten Tradition, aber, und das ist natürlich entscheidend, mit gewaltig verbesserten Methoden.“

Zur Unwahrscheinlichkeit des Lebens:

Zum Abschluß kurz eine Bemerkung der Kosmophysik (Robert Penrose und sein Schüler und Kollege Stephen Hawking) zum Thema des Lebendigen, dargestellt sehr schön bei Friedrich Cramer, „Der Zeitbaum – Grundlegung einer allgemeinen Zeittheorie“: „Die zeitliche Entwicklung des Kosmos muß als (irreversible) Abkühlung gemessen werden,“ . Von ganz charakteristischen Schwellentemperaturen an (10hoch6 Celsius) wird z.B. die Bildung von Atomkernen möglich. „Bei noch tieferen Temperaturen, etwa unterhalb 3.000 Grad C können chemische Verbindungen entstehen, eine bis zu diesem Zeitpunkt undenkbare Klasse von Stoffen, und erst unterhalb 100Grad C (373 K) können Eiweißstoffe existieren, die wichtigsten Moleküle des Lebens. Bekanntlich gerinnt Eiweiß bei 100Grad C (Abkochen des Eis) und ist dann tot. Leben ist also nur in einem winzigen Zeitfenster zwischen 0 und 100 Grad C möglich, das ist der zehnte Teil eines Milliardstes des gesamten Energiespektrums, wenn man eine Billion Grad kurz nach dem Urknall annimmt.“ 

Leben ist also physikalisch höchst „unwahrscheinlich“. Der - kosmophysikalisch betrachtet – sich ändernde Abstand des Mondes von der Erde (vor vier Mrd. Jahren noch viel näher an der Erde stehend), und der Abstand der Erde von der Sonne, die ja eines Tages kerntechnisch implodiert und zu einem toten sog. „weißen Stern“ wird, sodann die bekannte chemische Anomalie des Wassers innerhalb des Zehntels des Milliardsten Teils der abnehmenden Anfangstemperatur des Kosmos (Wasser im kristallinen Zustand schwimmt im Gegensatz zu anderen Füssigkeiten und ist damit eine Voraussetzung für das Leben auf der Erde) sind ja nur weitere Hinweise auf die Unwahrscheinlichkeit des Lebens. Und hätten die ersten 1,5 Mrd Jahre auf der Erde nicht die Archaebakterien und Grünalgen (deren chemische Evolution bzw. Abiogenese bis heute unbekannt ist) Sauerstoff ausgeschieden und damit die Ozonschicht der Erde produziert, wäre aller Wasserstoff ins All entwichen. Das hochfunktionale System der Zelle als der uns bekannten kleinsten Einheit des organisierten Lebens hätte nicht entstehen können. Wie Virchow sagte: „omnis cellula e cellula“, das Ganze der Zelle ist mehr als die Summe der Zellkompartimente, unableitbar. Genau dem stimmen Nick Lane und Enrico Coen zu.

Lane und Coen verknüpfen die molekularbiologischen Studien mit evolutionstheoretischen und heben damit eine alte, auch institutionelle und wissenssoziologische Spaltung innerhalb der Biologie auf, nämlich diejenige zwischen Darwins Evolutionstheorie und der biologischen Entwicklungstheorie. Darwins Evolutionstheorie sagt ja gar nichts über die Entwicklung der befruchteten Eizelle bis hin zum adulten Tier.  Dabei setzt ja die Evolutionstheorie das adulte Tier als Angriffspunkt der Selektion voraus. Gerade hier spielen die Arbeiten von Nobelpreisträgerin Christiane Nüsslein-Volhard, „Das Werden des Lebens – Wie Gene die Entwicklung steuern“ eine große Rolle, seitdem klar wurde, wie hochkomplex das biochemische Wechselspiel (Systemzusammenhang, kein linear-kausales Geschehen) zwischen Genen, Proteinen und ihren Aminosäuren, Aktivatoren und Inhibotoren  in der Genexpression ist. Dabei stehen konstanten Kernprozessen in der Zelle (z.B. Zitronensäurezyklus, Bildung von ATP als dem Grundenergielieferanten der Zellprozesse, seit der ersten Zelle vor ca. 600 Mio Jahren) strukturelle und zeitlich differente Kombinationsmöglichkeiten in der Zellentwicklung gegenüber.   

Nick Lane rechnet einmal statistisch die biochemischen Kombinationsmöglichkeiten innerhalb einer Zelle vor und kommt zu dem hyperhyper Möglichkeitsraum der Kombination von 10 hoch 320 (man schätzt die Summe der Atome in der sichtbaren Welt auf 10 hoch 70). Das Interessante, von Darwin natürlich noch nicht aufgeworfene Problem in der Evolution ist nun, daß jeder Selektionsschritt zugleich eine Verengung des Entwicklungsraums darstellt (z.B. Flügelbildung zwischen den Finger- oder Armstrukturen) wie auch eine unabsehbare Erweiterung des Entwickungsraums. Es werden Wege eingeschlagen, auf denen sich immer weitere Möglichkeiten ergeben, die vorher nicht da waren, zugleich aber gibt es kein Zurück zu früheren Entwicklungsschritten. Das ist quasi ein ratchet-Effekt, wie das der Primaten- und Kleinkindforscher Michael Tomasello in Leipzig nennt, man steigt auf die Schultern der anderen (hier trifft sich die biologische mit der kulturellen Entwicklung). Dieses Bild vom Wagenhebereffekt trifft gut das modallogische Problem in der aktuellen Biologietheorie zwischen den gen. Biologietheoretikern. Ein präziser Möglichkeitsbegriff steht derzeit aus, in den Grundlagenfragen wird die Biologie hier also philosophisch (und greift auf aristotelische Modelle zurück).

Man sieht leicht, wie die Biologie eigene, begriffslogische und damit philosophische Probleme generiert, aus sich selbst heraus erzeugt. Dasgleiche gilt auch in der Physik (siehe Norman Sieroka, „Philosophie der Physik“, der genitivus ist ein genitivus subjectivus – welcher Fachphilosoph wollte Stellung beziehen in den großen ungelösten Fragen der theoretischen Physik, der Quantentheorie, der Quantenfeldtheorie, der Stringtheorie, der Theorie der Supergravitation und der Quantengeometrodynamik), dasgleiche gilt für die Philosophie der Medizin, das unserem Philosophicum für Mediziner zugrundeliegt.  Die akademische Philosophie – gegen die Hans Aster ganz zurecht polemisiert -  hat sich am Ende des letzten Drittel des letzten Jahrhundert ganz auf hermeneutische Fragen zurückgezogen. Wie Albert Einstein sagte: Cassirer war der letzte akademische Fachphilosoph, mit dem er sich noch auf Augenhöhe unterhalten könne. Das war zu Zeiten des Aristoteles, Leibniz und Kant noch ganz anders. Hier wurden die Grundfragen nach Materie, Formbildung, Verhalten von Stoffen, Entwicklung, Energie als Grundfragen der Philosophie aufgeworfen.